Warum ich Kommunist binWarum ich Kommunist binWarum ich Kommunist bin
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Warum ich Kommunist bin

Andrij Mantschuk
Warum ich Kommunist bin
Um auf diese Frage zu antworten, muss ich mir selbst klarwerden und erinnern, wie ich zu meinen politischen Ansichten gekommen bin

15.01.2021

 

In den letzten Jahren wurde ich immer wieder gefragt, warum ich mich immer noch Kommunist nenne. Nette Menschen, denen mein Schicksal nicht gleichgültig ist, weisen darauf hin, dass dies nicht die vernünftigste Position für einen Bürger unseres Landes sei, eines Landes, indem der Antikommunismus zur Grundlage staatlicher Ideologie und Politik gemacht wurde.

Lohnt es sich überhaupt sich als Kommunist zu bezeichnen, wenn das zu zusätzlichen Problemen führt? – fragen mich meine fürsorglichen Freunde. Sie erinnern mich daran, dass ich die Führung der jetzt verbotenen Kommunistischen Partei der Ukraine scharf kritisierte und oft über die dunklen Seiten der sowjetischen Vergangenheit gesprochen habe. Ich meine, Loyalität gegenüber linken Ideen bedeutet keineswegs Loyalität gegenüber einem einzelnen Begriff oder Wort, selbst wenn es für eine große, schreckliche und trotzdem großartige Geschichte steht.

Um die Frage zu beantworten, warum ich ein Kommunist bin, muss ich mir selbst klarwerden und mich erinnern, wie ich zu meinen politischen Ansichten gekommen bin. Wahrscheinlich kann man dies als Zufall bezeichnen – aber nur im Sinne von Hegels Definition, die damit eine noch unbekannte Regelmäßigkeit meinte.

Ich teilte das Schicksal meiner Generation, verwandelte mich in einen guten Patrioten mit einem religiösen Glauben an die Alternativlosigkeit der Marktwirtschaft. Ich hatte eine ganze Reihe von nationalistischen Vorurteilen. Aber irgendwas ging schief – und meine persönliche Entwicklung wurde geprägt durch den Widerstand gegen rechte Dogmen, die uns allmählich als unverbrüchliche Normen aufgezwungen wurden.

Vielleicht sind die Bücher daran schuld. Meine Eltern, ein Arbeiter im U-Bahnbau und eine Logopädin in einem Kindergarten, hatten eine große Bibliothek, wie es damals in vielen sowjetischen Familien üblich war. Diese Bibliothek enthielt viele wirkliche Schätze – von den Werken von Ivan Efremov und den Brüdern Strugatsky bis zu Dreiser, Steinbeck, Marquez oder Robert Merle, der einen Roman über den roten Mai in Paris geschrieben hat. Übrigens wurde sein Buch auf Ukrainisch veröffentlicht – aber das war mir egal, da ich seit meiner Kindheit in einem zweisprachigen Umfeld mit gleichem Respekt für die beide – die ukrainische und die Weltkultur – aufgewachsen bin. Das war für mich eine wichtige Impfung gegen die ansteckende Krankheit des Nationalismus.

In meiner Kindheit gab es keine Idealisierung der sowjetischen Gesellschaft. Schon am Ende der Perestroika entdeckte ich die Klassiker der Dissidentenliteratur und wusste immer, dass mein Urgroßvater Vassil Mantschuk – nach einer gefälschten und absurden Anklage erschossen wurde – und mein Großvater deshalb in seiner Jugend im Gefängnis saß. Aber derselbe Großvater, der später den gesamten Krieg und den Nationalsozialismus erlebte, erzählte, die Sowjetregierung habe ihm Schuhe, elektrisches Licht und Bildung in seiner Muttersprache gegeben. Und seine Kinder konnten von der zu seinen Lebzeiten aufgebauten Gesellschaft alles erhalten, wovon viele Generationen unserer Vorfahren nicht träumen konnten. Und dieser objektive Ansatz ermöglichte es mir, eine ausgewogene Sicht auf dreiundsiebzig Jahre sowjetischer Geschichte zu entwickeln – ohne ihre Verbrechen und Errungenschaften zu vergessen.

Was ich aus Büchern und Geschichten gelernt habe verband sich mit meiner persönlichen Erfahrung. Meine Zeit als Jugendlicher fiel in eine turbulente Phase der kapitalistischen Restauration, als alte Ideale zerbrachen und neue Staaten entstanden, die sogleich stolz über ihre tausendjährige Geschichte berichteten. Natürlich verstand ich damals die wirklichen Gründe und das Wesen der Ereignisse, die um uns herum stattfanden, nicht, aber ich machte mir definitiv keine Illusionen über sie. Anfang der neunziger Jahre hatte ich keine naiven Ansichten über die Welt. Das Land war von der Krise erfasst, die Gehälter der Eltern waren wertlos geworden, und die Lebensmittelsendungen aus dem Dorf wurden zur Rettung der Familien. Kleidung wurde auf riesigen Bekleidungsmärkten gekauft, auf den Balkons gelagerte Kartoffelvorräte gewannen strategische Bedeutung, und Buchweizen mit Fischkonserven sind seitdem immer noch eines meiner Lieblingsgerichte.

Der Dschungel des freien Marktes wuchs und es war notwendig zu lernen, nach diesen Gesetzen zu leben. Nach einem Umzug aus dem Zentrum von Kiew, begriff ich diese Gesetze in einer überfüllten Schule eines Randbezirkes. Ich lernte in der zweiten oder dritten Schicht. Meine Klasse hatte den Erkennungs-Buchstaben "K".

Das Ideal meiner Generation waren die Klitschko-Brüder, die in meinem Hochhaus wohnten und damals noch nicht weltberühmt waren, aber in den Kiewer Vororten, wegen ihrer Erfolge beim Kickboxen und ihren Verbindungen zum Mafiosi Rybka («der Fisch») sehr beliebt waren. Der Hund der Klitschko-Brüder, ein Vertreter einer für sowjetische Kinder unbekannten Rasse - der rattenähnliche Bullterrier Max – grinste die Teenager räuberisch an, als würde er warnen, was uns unter den plötzlichen gesellschaftlichen Veränderungen in unserem Land erwartet.

Schon damals war klar, welcher Platz für mich in der neuen Realität der kapitalistischen Ukraine vorbereitet war. In wurde in einem riesigen Land geboren. Es war groß, nicht nur wegen seiner berüchtigten militärischen Stärke, sondern aufgrund der sozialen Errungenschaften der Oktober-Revolution, welche die vielen Mängel überdeckten. Und plötzlich befand ich mich in einem armen Land der Peripherie, dass stark von äußeren Einflüssen abhängig war und seine Vergangenheit zu seinem Ideal machte. Statt auf die Raumfahrt war man nun stolz auf gestickte Hemden und Tripolje¹-Töpfe aus Ton. Meine Lebensaussichten beschränkten sich auf ein Dasein als Bürosklave, als Wissenschaftler, der für ein Bettlergehalt historische Mythen schafft oder Mitglied der wachsenden Armee der Arbeitsmigranten zu werden.

Der Marxismus, mit dem ich mich an der Fakultät für Soziologie des Kiewer Polytechnischen Instituts vertraut machte, wo die besten Lehrer für materialistische Dialektik Zuflucht fanden, erklärte mir die Widersprüche der postsowjetischen Welt.

Ich begann dann mit dem politischen Journalismus und sozialen Kampf, in der Hoffnung, die postsowjetische Welt eines Tages zu ändern. Das Studium philosophischer Werke wechselte mit der Teilnahme an Protesten und Reisen durch das Land. Wir halfen, Streiks zu organisieren, schlugen uns mit den Rechten und der Polizei, machten uns mit Flugblättern auf den Weg zu metallurgischen Fabriken, fuhren unter Tage zu den Bergleuten und gingen mit ihnen auf Protestmärschen in Kiew.

Die Zusammenarbeit mit der Zeitung der Allukrainischen Gewerkschaft der Arbeitenden ermöglichte es, die Gründe für die vielfältigen sozialen Probleme zu untersuchen, sie auf sich wirken zu lassen und in Artikeln darüber zu berichten. Dieser praktische Teil hat dazu beigetragen, die Aktualität des in den Vorlesungen Erlernten zu verstehen.

Dem jetzt verbotenen "Kommunismus" verdanke ich viel. Kommunismus nennt man heute vereinfacht die Gesamtheit der linken Ansichten über die politische und sozioökonomische Weltordnung. Dank der marxistischen Theorie konnte ich selbst die Beziehung von Ursache und Wirkung verstehen, die hässliche Natur der Entwicklung unserer Gesellschaft bestimmen, und die Logik verstehen, nach der sie abläuft. Das ermöglichte es mir, die Netzwerke von Politikern und Propagandisten zu meiden, die Millionen meiner Mitbürger so leicht täuschten.

Meine ideologische Entscheidung machte es notwendig, dass ich ein umfassendes Wissen über die Welt erlangte. Wegweisend waren für mich die bekannten Worte: "Sie können nur dann Kommunist werden, wenn Sie Ihren Verstand mit dem Wissen über alle Schätze bereichern, welche die Menschheit entwickelt hat". Und dies drückte sich bei mir nicht nur im Interesse an allen Bereichen der wissenschaftlichen und praktischen menschlichen Tätigkeit aus, sondern auch in dem Wunsch, das Leben in verschiedenen Teilen unseres Planeten kennenzulernen – wo dieselben Mechanismen von Unterdrückung und Ungleichheit wirken.

Nachdem ich als Journalist und Aktivist verschiedene, oft sehr zurückgebliebene und vom Krieg betroffene Staaten besucht hatte, wurde mir klar, wie weit verbreitet der Einfluss der sowjetischen Erfahrung war. Trotz der historischen Niederlage dieses System, war es eine Alternative zum System der Marktwirtschaft. Das sowjetische System hat es geschafft, eine große Masse von Menschen zu beeinflussen und sie zum Nachdenken, zum kreativen Schaffen und zum Kampf zu bewegen.

Die Beständigkeit dieses Einflusses erwies sich als unerwartet stark - trotz Spaltungen und Streitereien, trotz des Niedergangs und der trostlosen Lage der Gesellschaft in unserer Zeit. Einwohner verschiedener Kontinente, Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Vertreter verschiedener Richtungen des linken politischen Paradigmas sahen uns als Genossen, die sich durch ein gemeinsames Klasseninteresse und ein einziges humanistisches Ziel einig waren. Bei der Kommunikation mit ihnen fühlten wir uns als Teil einer gemeinsamen Tradition, die weit über die Ära des wissenschaftlichen Sozialismus hinausgeht – bis zu den ersten archaischen Versuchen, für soziale Befreiung und Menschenwürde zu kämpfen, bis zu Münster, Tábor und Montségur.

Dieser Weg brachte für mich großes Glück, Liebe und Freundschaft und erfüllte mein Leben mit dem Sinn, den es braucht. Und wenn es so ist, muss ich die Verantwortung für alles übernehmen, was unter dem Banner der kommunistischen Bewegung erreicht wurde. Und ich bin bereit, dafür unter den Bedingungen der in unserer Gesellschaft herrschenden antikommunistischen Hysterie zu bezahlen.

Nein, das ist keine Unbesonnenheit oder Stolz. Ich verstehe: Vorsicht, und Überlegtheit sind für die Linke sehr wichtig - wenn sie unter den Bedingungen eines ihnen feindlichen politischen Regimes mit seiner totalitären Intoleranz und Pogromgewalt überleben und sich entwickeln will. Gegen diejenigen, die sich als Kommunisten betrachten, wirken viele Faktoren.

Die Führer der postsowjetischen kommunistischen Parteien haben ihre ererbte Marke schamlos ihres Inhaltes beraubt und das Wort "Kommunismus" zu einem Markenzeichen auf dem politischen Markt gemacht. Und die rechte Gesellschaft, die als Ergebnis des Euromaidan entstand, verwischte und diskreditierte das Konzept des Kommunismus und machte es zu einem Fluch oder Vorwand für eine Denunziation. Meine Freunde haben Recht - der Marxismus erkennt Fetische nicht an. Diese Erkenntnis führte Lenin zu der Entscheidung, den wohlverdienten und populären Namen der Sozialdemokraten aufzugeben, weil er während des globalen Kriegsmassakers den Stempel des Verrats trug.

Das ist alles wahr. Aber ich sehe, dass jede Erwähnung des lang verschütteten Kommunismus unter den reaktionärsten Kräften unserer Zeit wütenden Hass hervorruft. Dieser Hass zerstört im wahrsten Sinne des Wortes mein Land und seine Menschen. Die reaktionären Kräfte versuchen, das Wort Kommunismus vollständig aus dem historischen Gedächtnis und dem öffentlichen Raum zu löschen. Sie schreiben Lehrbücher um, zerstören Denkmäler, benennen Straßen und ganze Städte um. Und sie tun dies, weil sie bis heute Angst vor dem revolutionären Inhalt der emanzipativen Idee haben, die ständig durch die Realität des Kapitalismus reproduziert wird.

Und weil es so ist, werde ich mich Kommunist nennen.

Andrij Mantschuk

¹

Die Cucuteni-Tripolje-Kultur, gehört zu den südosteuropäischen Kulturen des Neolithikums und des Eneolithikums. Zeitlich wird sie etwa um 5000 bis 2750 v. Chr. angesetzt. Sie ist meistens durch seine Lehmgeschirrfunde (Töpfe) bekannt.

Liva

übersetzt von Polina Beljaewa und Ulrich Heyden 

 


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